Zwischen Luftschlössern und Realutopie

Das Projekt wächst. Das geht natürlich nicht ohne Komplikationen. Die Zahl der Projektmitglieder verdoppelt sich etwa im Vergleich zur Bewohner*innenzahl zu Beginn der Planungsphase des Bauprojekts. Seit Ende 2019 sind wir mehr oder weniger durchgängig auf der Suche nach neuen Mitbewohnis. Die allermeisten haben wir inzwischen gefunden und freuen uns sehr.

Leider fiel ein Großteil des Stallausbaus mit der Covid-19 Pandemie zusammen. Auch wenn dadurch vieles anders lief als gewünscht und geplant, bleibt der Rahmen derselbe: Geschaffener Wohnraum muss und will belebt und finanziert werden, Menschen überall müssen oder wollen ihre Wohnsituationen verändern, Menschen wollen nach wie vor ihre Vorstellungen und Träume eines guten Lebens verwirklichen und suchen den geeigneten Ort dafür.

In den Bauplänen für den „Neuen Stall“ war keine Pandemie vorgesehen. Deshalb wird es im Sommer 2021 neue Wohnräume im Projekt geben – wenn auch mit coronabedingten (Bau-)Verzögerungen. Um Menschen zu finden, die sich ein Leben in einem solidarisch-gemeinschaftlichen Zusammenhang wünschen, begann trotz Corona der zweite Teil des gigantischen „Kennenlernprozesses“. Es wird dann statt einer großen Wohngemeinschaft im Haupthaus (zu der auch die Bauwägen sowie 2 kleine, abgeschlossene Wohneinheiten gehören), 7 unterschiedliche WGs im Haupthaus, im „Neuen Stall“ und im „Silo“ geben.

Normalerweise machen Gesprächsrunden und Zeit zusammen auf dem Hof verbringen und sich dabei ausgiebig gegenseitig beschnuppern, zum Beispiel bei den Haus- und Hoftagen [https://www.raeume.org/wp-content/uploads/2021/04/210322_Statut_Raeume.pdf] – den Kennenlernprozess aus. Doch nun bestimmen Mindestabstand, Hygieneregeln und das Digitale das soziale Miteinander. Wie lernt also ein gemeinschaftliches Projekt unter diesen Bedingungen 25 potentielle neue Projektmitglieder kennen?

Die Antwort lautet, wie so oft in den letzten Monaten: Online. Alles, was geht, wird ins Netz verlegt. Projektmitglieder drehen Videos und bieten Online-Touren durch das Haupthaus oder über den Hof an. Reisen Kennenlernis aus der Umgebung an, wird eine 1:1-Hofführung organisiert. Leider zeigen sich hier bereits die Grenzen dieses Vorgehens: Für Kennenlernis, die in anderen Regionen des Landes wohnen, lohnt sich die weite Anreise dafür kaum.

Durch digitale Kennenlerntage wird alten, neuen (aber noch nicht auf dem Hof wohnenden) und potentiellen („Kennenlernis“) Projektmitgliedern ein erstes Zusammenkommen ermöglicht. Statt Hofführungen in kleinen Gruppen behelfen wir uns etwa mit Breakoutrooms, thematischem Input und Fragerunden.

Dank der technischen Möglichkeiten konnten wir weitermachen trotz monatelangen Lockdowns und darüber hinausreichenden selbstauferlegten Kontaktbeschränkungen aufgrund der Haushaltsgröße. Teilweise erleichtern webbasierte tools sogar den Kennenlernprozess, machen ihn inklusiver. Beispielsweise hätten ohne Videokonferenzen neue Projektmitglieder, die noch nicht auf dem Hof wohnen, weniger Möglichkeiten, beispielsweise an Kennenlerngesprächen mit weiteren Interessierten teilzunehmen. Die Auswahl einiger ihrer zukünftigen Mitbewohnis bliebe dann den alten Projektmitgliedern überlassen.

Für diese webbasierte Gemeinschaftsverdopplung sind unglaublich viel guter Wille, Offenheit, Durchhaltevermögen, Kompromissbereitschaft und Optimismus aller Beteiligten notwendig. Und auch viel Fantasie, die das Erleben mit allen Sinnen, die Einblicke in die Normalität des Hofes – eigentlich so elementar in einem Kennenlernprozess – ersetzen muss.

Denn es gibt so viel an Zwischenmenschlichkeit und analogem Erleben, was nicht ins Netz verlegt werden kann. Darauf verzichten wir in diesem Kennenlernprozess und hoffen, dass das Ergebnis des Prozesses dasselbe ist wie unter pandemielosen Bedingungen: Neue Projektmitglieder auf dem Hof, die sich mit dem Projekt identifizieren und es mittragen sowie eine neu zusammengesetzte Gruppe, die harmoniert.

Unter den gegebenen Umständen entscheiden sich Kennenlernis, in einer bestimmten WG auf dem Hof zu wohnen, ohne jemals deren Räumlichkeiten gesehen und erlebt zu haben (zu viele Haushalte in einem Raum!). Alte Projektmitglieder und Neue, die aber noch nicht auf dem Hof wohnen, entscheiden sich, gemeinsam eine WG zu bilden, ohne jemals zusammen an einem Tisch gesessen zu haben (Mindestabstand!). Teilweise sind sich Menschen aus einer WG nicht öfter als 10 Mal auf dem Bildschirm begegnet, haben Personen z.T. nur bis zum Schlüsselbein gesehen (das liegt auch am Winter).

Und trotzdem stellen sich alte und neue Mitglieder als Gemeinschaft vor. Wir tun so, als wären wir eine Gemeinschaft, sind arbeitsfähig. Plenieren online, als hätten wir es schon 100 Mal zuvor in echt getan. Treffen Entscheidungen über die noch zu füllenden Zimmer. Dabei kennen wir uns eigentlich gar nicht, oder? Unsere Vorstellungen vom gemeinsamen Leben als WG oder als hofübergreifende Gemeinschaft, die Sympathien für einzelne Projektmitglieder oder Kennenlernis basieren größtenteils auf blitzartigen Momentaufnahmen im Bildschirm und dem, was sich jede*r dazu vorstellt. So bauen wir in gewisser Weise Luftschlösser und hoffen, dass die Luft mit den Einzügen diesen Sommer „fest“ wird.